Eine einsame Schotterstraße im Wald. Vor mir seh ich schon seit einiger Zeit nur den Lichtkegel meiner Vorderlampe und schemenhaft die Umrisse von Baumwipfeln, die sich vom Nachthimmel abheben. Der letzte Ort liegt bereits ein paar Kilometer hinter mir und außer dem Wald, einer nahen Meeresbucht und vereinzelt ein paar Häusern auf der rechten Seite gibts hier eigentlich nicht mehr viel. Und es kommt auch nicht mehr viel, denn laut Karte hört der Weg in ein paar Hundert Metern mitten im Wald einfach auf. Hier in der Nähe soll es hier aber eine kleine Wiese geben auf der man zelten kann. Direkt am Wasser irgendwo. Und da will ich hin.
Dank Smartphone ist es in Australien nicht wirklich schwer Plätze dieser Art zu finden. So gut wie jeder, den ich hier getroffen habe und der in irgendeiner Form unterwegs ist, reist mit einer bestimmten App – WikiCamps heißt die. Und diese App ist so dermaßen praktisch, dass man nach ein paar Tagen gar nicht mehr drauf verzichten möchte. Auf einer Karte zeigt sie einem nämlich alles Mögliche an, was man als Reisender so brauchen kann: verschiedene Rast- und Zeltplätze und sonstige Unterkunftsmöglichkeiten, Parks, in denen man kochen und manchmal auch kostenlos duschen kann, in denen man Trinkwasser vorfindet, aufs Klo gehen kann und irgendwie an Strom kommt. Außerdem werden sog. Points of Interest aufgeführt, also bspw. Strände und Museen, aber auch Wäschereien, Obst- und Gemüsemärkte, der östlichste Punkt Australiens oder aber der höchste Baum von New South Wales. Dazu werden alle diese Punkte von Nutzern der App beschrieben und bewertet. Manchmal gibts auch Fotos. Und mit einem Tastendruck kann man sich dann sogar direkt zu seinem gewünschten Reiseziel navigieren lassen. Wirklich ungemein praktisch und hilfreich.
Gerade bei der Unterkunftssuchen nutze ich diese App oft, denn normale Unterkünfte – egal, ob Hostels, Campingplätze oder Caravanparks, sind in Australien im Allgemeinen ziemlich teuer und wildes Campen war zumindest auf meinem Streckenabschnitt bisher nur selten möglich, weil das Gelände abseits der Straßen meist direkt zu irgendwelchen Farmen gehört und daher fast alles eingezäunt ist. Ich versuch daher immer irgendwelche kostenlosen Plätze zu finden und hangele mich dabei quasi von einem Rastplatz zum nächsten. Und heute gehts eben zu einer kleinen Wiese am Wasser. Ziemlich abgelegen ist sie. Aber so weit kann es jetzt nicht mehr sein. Der nächste Weg, der links abgeht, sollte mich eigentlich dorthin bringen. Dann wird erstmal schön das Zelt aufgebaut und lecker gekocht. Freu mich schon auf einen Topf voll dampfender Nudeln, Gemüse und leckerer Tomatensoße.
Und wie ich so durch die Nacht fahre, werde ich plötzlich abrupt aus meinen Gedanken gerissen. Ich höre nur noch ein Bellen rechts von mir und dann seh ich auch schon einen Schatten über ein Grundstück huschen. Einen ziemlich großen Schatten. Den Bruchteil einer Sekunde wünsch ich mir noch, dass das Tor geschlossen ist, aber fast im gleichen Moment seh ich hinter mir auch schon einen Hund durch das geöffnete Tor auf mich zu preschen. Augenblicklich bremse ich mein Fahrrad ab und halte an. Normalerweise wäre der erste Reflex ja so schnell wie möglich davon zu fahren. Aber wenn es nicht gerade die nächsten Kilometer bergab geht, ist das mit einem Reiserad ein absolut aussichtsloses Unterfangen. Innerhalb kürzester Zeit würde man selbst von einem kleinen Hund eingeholt worden sein. Wenn man aber anhält, dann bleibt auch der Hund in einiger Entfernung stehen. Hat immer funktioniert bisher. „You stop, they stop.“ Das war einer der wichtigsten Ratschläge, die ich auf meiner Reise bekommen habe. Damals, noch in der Türkei, nach meiner Begegnung mit den Kangals. Vier einfache Worte, die sich schon bei den ersten zögerlichen Versuchen meinerseits als absolut praxistauglich erwiesen und mir seit dem unzählige nervenaufreibende Verfolgungsjagden erspart haben.
So auch diesmal. Kaum hab ich gebremst, stoppt auch der Hund und lässt immerhin einen Abstand von knapp vier, fünf Metern zwischen uns. Vom Erscheinungsbild einer Dogge ziemlich ähnlich und auch fast genauso groß, hüpft er bellend vor mir hin und her.
Bis an diese Stelle hab ich ähnliche Situationen wie gesagt schon oft erlebt und es lief immer fast genau gleich ab. Daher bin ich auch noch nicht allzu nervös. Normalerweise würde sich die Situation jetzt ziemlich schnell auflösen. Der Hund würde noch ein paar Mal bellen und man würde ihm sein Irritiert-sein über die neue Situation förmlich ansehen können. Und dann würde er ziemlich bald Kehrt machen und wieder verschwinden. Ich würde währenddessen auf mein Rad steigen, weiterfahren und die Sache wär erledigt. So lief das bisher jedes Mal ab. Egal, ob es nur ein einzelner Hund, ein Paar, oder ein ganzes Rudel gewesen ist.
Diesmal ist es jedoch anders: mein Hund will einfach nicht gehen. Sobald ich Anstalten mache auf mein Rad zu steigen, kommt er bedrohlich nahe, so dass ich wieder absteigen muss und er sich dann wieder ein Stück zurückzieht. Nach wie vor hüpft er außerdem bellend vor mir auf und ab und versucht auch immer wieder ums Fahrrad herumzulaufen, was ich bisher quasi als letzte Barriere zwischen uns gehalten habe. Aber letztlich bleibt er immer hinter meinem Fahrrad. Mit Leichtigkeit könnte er ja einfach darüber hinwegspringen oder anderweitig an mich herankommen. Aber das ist offensichtlich gar nicht sein Plan, was schon mal sehr beruhigend ist. Nach zwei, drei erfolglosen Versuchen von hier wegzukommen ist es trotzdem vollkommen klar: eine Weiterfahrt ist nur mit Hilfe des Besitzers möglich. Zum Glück brennt im nahegelegenen Haus Licht, so dass ich anfange nach den Besitzern zu rufen und zu pfeifen. Bei jedem Pfeifton zuckt der Hund zusammen und zieht sich ein paar Meter zurück, kommt dann aber gleich wieder ein paar Schritte auf mich zu. Eine ziemlich verfahrene Situation. Genauso abrupt, wie die ganze Sache begonnen hat, ist sie dann bald aber auch schon wieder vorbei. Nach kurzer Zeit erscheinen die Besitzer auf der Veranda und rufen ihren Hund zu sich. Der bellt nochmal kurz, läuft dann zurück ins Haus und ich hab den Schotterweg wieder allein für mich.
Puh….erstmal durchschnaufen. Während der ganzen Aktion war ich eigentlich ziemlich ruhig gewesen, aber auf einmal ist sie dann da, die Aufregung. Aber gut, ist ja alles glimpflich ausgegangen und aufgeregt sein kann ich auch noch während der Fahrt oder später am Zelt. Jetzt muss ich erstmal meinen Zeltplatz finden. Und dann will ich ja auch noch etwas essen.
Wie auf der Karte angegeben geht links bald ein kleiner Weg ab. Fast um 180° gedreht und ziemlich steil und unwegsam führt er herunter bis an den schmalen Uferstreifen einer Meeresbucht. Ganz ruhig ist es hier. Keine Menschenseele weit und breit. Ab und an hört man ein paar Vögel umherflattern. Hier kann ich heute bestimmt gut einschlafen. In den Reviews zu diesem Platz hab ich allerdings gelesen, dass man sein Zelt hier nur bis zu einem bestimmten Wasserpegel aufbauen sollte. Andernfalls könnte es passieren, dass man nachts vom Wasser überrascht wird und in einem nassen Zelt aufwacht. Da ich hier nirgends eine Pegellatte finden kann, an der sich der aktuelle Wasserstand ablesen lässt, bau ich mein Zelt ganz am Rand der Wiese auf, in der Nähe des Weges. Da ist es auf jeden Fall trocken, während die Erde des Uferbereichs tatsächlich ziemlich durchnässt ist. Außerdem lass auch alle Taschen am Rad hängen. Für den Fall der Fälle. Nur die Isomatte, den Schlafsack und mein Kissen hole ich raus. Und dann….dann gibts aber wirklich erstmal mein wohlverdientes Abendessen.
Die Nacht ist ruhig und trocken. Gegen 5:30 Uhr werde ich vom Gezwitscher der Vögel geweckt. Aber da es noch ganz dunkel, bleib ich einfach noch liegen. Um kurz nach sechs steh ich dann aber auf, koch schnell Kaffee und schau mir den Sonnenaufgang an. Echt ein schöner Platz, wo ich hier gelandet bin. Besonders jetzt am Morgen mit den wärmenden Sonnenstrahlen. Die tun richtig gut. Nachts wird es nämlich immer schon ganz schön frisch. Es reicht auf alle Fälle nicht mehr aus, dass ich meinen Schlafsack nur als Decke verwende. Im Prinzip von einer Nacht zur nächsten, musste ich den Reißverschluss fast bis oben hin schließen. Oft sind es jetzt morgens nur noch vier, fünf Grad, während tagsüber aber durchaus noch spätsommerliche Werte um die 25 °C erreicht werden.
Nach einem kurzen Frühstück bau ich mein Zelt ab und mach mich wieder auf den Rückweg zur Straße und weiter Richtung Süden. Es bleibt landschaftlich weiterhin sehr abwechslungsreich und geht sowohl am Meer entlang als auch wieder durch die Berge. Genau wie die letzten Wochen.
Nach etwas über 1500 Kilometern in Australien bin ich gestern in Sydney angekommen. Halbzeit kann man sagen. Hier mach ich jetzt erstmal ein paar Tage Pause. Freu mich schon drauf, die heimliche Hauptstadt Australiens zu erkunden und ein bisschen auszuspannen.