Der Gebetsruf des Muezzins reißt mich abrupt aus meinen Träumen. Ich öffne meinen Schlafsack ein winziges Stück, ziehe meinen Schal zurück und spüre umgehend eine beißende Kälte im Gesicht. Es hat die ganze Nacht hindurch geregnet und im Zelt um mich herum fühlt sich alles feucht an. Mein Schlafsack ist außen klamm und an der Zeltinnenseite hängen dicke Wassertropfen, die nur darauf warten bei der kleinsten falschen Bewegung auf mich herabzufallen. Kondenswasser. Irgendwie konnte das heute Nacht nicht verdunsten. In der Dunkelheit suche ich nach meinem Handy und schau auf die Uhr. Es ist 6:30 Uhr. Durch das Zeltgewebe kann ich das erste Dämmerungslicht ausmachen. Verschlafen lasse ich mich wieder auf meine Isomatte fallen. Es ist noch viel zu dunkel, um aufzustehen. Was ein Glück. Ich verkrieche mich daher wieder ganz tief in meinen Schlafsack. Da ists trotz der Nässe und Feuchtigkeit im Zelt immer noch schön warm. Nur noch eine halbe Stunde….
Irgendwann ist die leider rum. In Anbetracht der Umstände hab ich aber weiterhin nicht die geringste Lust aufzustehen. Aber es nutzt ja nichts. In den nächsten Stunden wird es nicht viel wärmer werden und außerdem steh ich direkt an einer Straße und es wird immer heller. Also…schnell bis drei zählen und dann noch schneller anziehen. Und dabei bloß nicht an das Innenzelt stoßen. Als ich den Kopf zum Zelt rausstrecke, sehe ich, dass es geschneit hat. Nasser Backschnee liegt auf der Wiese um mich herum und auf meinem Zelt. Dazu hängt schwerer, nasskalter Nebel in der Luft. Mich fröstelt. Ich packe meine Siebensachen zusammen, bau das Zelt ab und verstaue alles, nass wie es ist, in den Taschen. Wenn die Dinge nach Plan laufen, bin ich heute Abend wieder in einem Hostel. Da kann ich ja dann alles trocknen. Bis ich mein ganzes Gepäck an der Straße hab, muss ich vier Mal durch das hohe Gras laufen. Und das mit meinen dünnen Fahrradschuhen. Aber Dank zweier Plastiktüten, die ich über meine Schuhe gestülpt habe, bleiben meine Füße halbwegs trocken. Um acht Uhr schließlich steh ich abfahrbereit an der Straße und kann los. Puh, das wäre geschafft!!
Seit zwei Tagen bin ich jetzt unterwegs. Von Lanzhou nach Xiahe. Es ist ein Abstecher, denn Xiahe liegt eigentlich etwas abseits meiner Route. Aber ich musste hier unbedingt hinfahren, denn in meinem Reiseführer wird die Stadt als absolut sehenswertes Ziel beschrieben: eine kleine Stadt an der Grenze zu Tibet, Mönche, buddhistische Tempel, ein großes Kloster, viele Pilger und das alles umgeben von Bergen, Jurten, Yaks und Grasland. So die Kurzfassung. Das konnte ich nicht einfach so ungesehen vorbeiziehen lassen. Es ist außerdem eine willkommene Abwechslung zu den hektischen Großstädten, in denen ich während der letzten Wochen so viel Zeit verbracht habe. Und irgendwie vielleicht auch eine Suche nach innerer und äußerer Ruhe, die mich nach Xiahe zieht.
70 Kilometer und 1500 Höhenmeter liegen heute vor mir. Keine große Sache eigentlich. Nur das Wetter…naja, das könnte besser sein. Um mich etwas zu motivieren, stell ich mir immer wieder vor, wie ich später im Hostel ankomme und eine dampfende Tasse mit heißem Kaffee in den Händen halte. Auf die hab ich heut Morgen nämlich ausnahmsweise mal verzichtet. Irgendwie scheint das zu klappen, das mit der Motivation. Vielleicht bilde ich mir das ja auch nur ein, aber ich komm glaub ich ziemlich flott voran. Und spätestens als mir wieder etwas wärmer geworden ist, ist der Schnee auf den Bäumen auch wieder nett anzusehen. Und hej, ich bin wieder in den Bergen. Zu meinem Glück herrscht eine Inversionswetterlage. Je höher es hinauf geht, desto wärmer und trockener und sonniger wird es. Wie gut sich das doch anfühlt, die wärmenden Sonnenstrahlen auf der Haut. Insbesondere nach den wolkenverhangenen letzten Tagen und dem durchweichten, nasskalten Morgen. Und wie schön ein kleiner Fetzen blauer Himmel aussehen kann. Ich bin auf einmal unglaublich froh hier zu sein und das so direkt zu sehen und zu erleben. Dass so ganz einfache und banale Dinge für solche Glücksmomente sorgen können, überrascht mich irgendwie immer wieder. Kurz vor Xiahe dann strahlend blauer Himmel und unglaubliche 12°C. Richtiges Frühlingswetter. Wer hätte das heute Morgen noch gedacht?
Und dann erreiche ich Xiahe. Also irgendwann vorgestern Nachmittag. Meine Tasse Kaffee, die gabs aber schon vorher. Kurz vor Xiahe auf einer kleinen Wiese in der Sonne. Da musste ich einfach anhalten. Ich war ja auch so schnell unterwegs… Gestern hatte ich dann schon Mal etwas Zeit in der Stadt herumzuschlendern. Und jetzt werd ich sicher ein, zwei Tage bleiben und mir auf jeden Fall auch das Kloster ansehen, bevor es dann Mitte der Woche wieder weiter geht. Erst nach Lanzhou und dann weiter nach Xian.